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„(Über)morgen kommt der Weihnachtsmann, …

22. Dezember

… kommt mit seinen Gaben.“ Diese Worte waren für mich als Kind nicht einfach nur die ersten Zeilen des bekannten Weihnachtsliedes, sondern schafften es stets, mich in helle Aufruhr zu versetzen. Immerhin würde am nächsten Tag nicht irgendein Gast zu unserer Feier hinzustoßen, sondern der Weihnachtsmann höchstpersönlich. Solch ein Besuch wollte gut vorbereitet sein: Schon Wochen vorher begannen mein kleiner Bruder und ich mit der Songauswahl für unsere weihnachtliche Darbietung, die den bärtigen Mann sanftmütig stimmen sollte. Es wurde geübt und geprobt,
bis auch die letzte Strophe fehlerfrei saß.

Und dann war er da, der Weihnachtstag: Freudig aufgeregt warteten wir
auf das bedächtige Klopfen an der Wohnungstür und drückten mutig die Klinke. Angst hatten wir keine, denn wir waren natürlich felsenfest davon überzeugt, dass wir uns nichts zu Schulden kommen lassen hatten. Und so war es ja auch – zumindest meistens. Mit seinem roten Mantel, einem großen Sack, einer Rute und einem Gehstock mit Glöckchen, an deren Klang ich mich noch heute genau erinnern kann, stand der Weihnachtsmann vor uns. Und dann lief alles nach Plan: Wir trugen unsere Lieder vor, er ließ die Rute stecken, übergab die Geschenke und dann war er auch schon wieder verschwunden. Bedauerlicherweise schaffte ich es nie, seinen Rentieren kurz Hallo zu sagen, die er – laut Aussage meiner Eltern – auf unserem Dach geparkt hatte. Und so blieb mein Wunsch, Rudolf einmal die Hufe zu schütteln, leider unerfüllt. Als ich später erfuhr, warum ich die Rentiere nie hatte begrüßen können und dass das mit dem Weihnachtsmann auch so eine Sache ist, war ich schon ein wenig enttäuscht. Weihnachten hatte, zumindest ein kleines bisschen, von seinem magischen Zauber verloren. Und so freue ich mich umso mehr darauf, wenn es eines Tages – dann vielleicht mit eigener Familie – plötzlich wieder bedächtig an der Tür klopft … Dann werde ich auch endlich Rudolf zur Rede stellen.

Viviane Friese
Malerin bei Wendt & Kühn